Ebenen familiärer Beziehungen in der Erziehungsberatung in Seesen

Als Erziehungsberatungsstelle versteht sich das AWO-Zentrum für Erziehungs- und Familienberatung sowohl als Beratungsangebot, das bei familiären Schwierigkeiten Veränderungen anregt und Familien wieder in die Lage versetzt, eigenständig familiäre Herausforderungen zu meistern als auch als eine Clearingstelle, die familiäre Problemlagen schnell an die geeigneten Stellen vermittelt.

Ermittlung von Beratungs- und Unterstützungsbedarfen

Ermittlung von Beratungs- und Unterstützungs-bedarfen

In einer Fragebogenerhebung sollte der Frage nachgegangen werden, mit welchen Themen Familien in die Erziehungsberatung kommen und wie ausgeprägt diese Probleme sind. Mit der Feststellung der Art und der Ausprägung der Problemlagen sollte eine fundierte Entscheidung möglich sein, ob die Ratsuchenden grundsätzlich richtig in der Erziehungsberatung sind oder ob sie andere, weitergehende Hilfen benötigen.

Um dieser Frage nachzugehen, bot sich der Fragebogen von Torsten Klemm „Ebenen familiärer Beziehungen“ (2013) an, der in Form einer Checkliste elterliche Stärken und Schwächen erfasst. Die 24 Items des Fragebogens werden von den Eltern in cirka 5-7 Minuten selbst ausgefüllt. Der Fragebogen ermöglicht Aussagen hinsichtlich der familiären Belastungsbereiche Beziehung zum Kind, persönliches Befinden, Partnerschaftszufriedenheit
und Sozialkontakte. Jeden der Bereiche kann man dahingehend auswerten, ob kein Bedarf, ein Beratungsbedarf oder ein Therapiebedarf besteht.

Erziehungsberatung Niedersachsen - Ebenen familiärer Beziehungen - AWO Seesen

Damit ein Gesamtscore ermittelt werden kann und die Auswertungsbereiche miteinander verglichen werden können, wurden nur Eltern befragt, die in einer Partnerschaft leben.
Bei der Entwicklung des Fragebogens wurden Kennwerte empirisch ermittelt, ab welchem Wert der Fragebogen nicht ausgewertet werden kann. Wenn keine Probleme benannt werden, geht der Autor Torsten Klemm davon aus, dass die Familie zu Bagatellisierung und Idealisierung neigt und somit keine zutreffenden Selbstaussagen vorliegen.

Vor der Fragebogenerhebung wurden folgende drei Leitfragen entwickelt, die untersucht werden sollten:

  1. Sind die Klient*innen richtig in der Erziehungsberatung oder brauchen sie andere, weitergehende oder keine Hilfen?
  2. Bestehen bei den Klient*innen neben Erziehungsproblemen auch weitergehende Schwierigkeiten in den familiären Ebenen Persönliches Befinden, Partnerschaft und Sozialkontakte?
  3. Liegen Mehrfachbelastungen bei den Klient*innen vor?

Beschreibung der Fragebogenerhebung

Von April 2022 bis zum April 2023 wurden allen Klient*innen vor einem Erstgespräch die Fragebögen ausgeteilt, die sie ausgefüllt zurückgeben sollten. Es wurden nur Eltern befragt, die in einer Partnerschaft leben. Ausgenommen waren Mediationsanfragen und Jugendberatungen. 129 Fragebögen wurden ausgefüllt. Davon konnten 109 Fragebögen ausgewertet werden.

Darstellung der Ergebnisse

Ausmaß des Beratungs- und Therapiebedarfs

69 % der befragten Eltern gaben eine mindestens beratungsrelevante Belastung in der Beziehung zu ihren Kindern an, 73 % der Eltern gaben an, dass sie persönlich sehr belastet sind, sogar 74 % der Befragten sehen ihre Partnerschaft als belastet an und immerhin 61 % klagen über Schwierigkeiten in den Sozialkontakten.
Es besteht eine hohe Belastung bei den untersuchten Eltern in allen 4 relevanten Familienebenen.

Erziehungsberatung Niedersachsen - Fragebogenerhebung: Ausmaß des Beratungsbedarfs in der Erziehungsberatung - AWO Seesen
Tabelle 1: Ausmaß des Beratungs- und Therapiebedarfs

Verteilung der 4 Ebenen bezogen auf Beratungs-/ Therapiebedarfe

Diese differenzierte Auswertungsebene verdeutlicht das Ausmaß der Belastung in den einzelnen familiären Ebenen. Dabei wird deutlich, dass der Therapiebedarf sogar höher ist als der Beratungsbedarf, insbesondere in den Bereichen Beziehung zum Kind, Partnerschaft und soziale Kontakte.

Erziehungsberatung Niedersachsen - Fragebogenerhebung: Beratungsbedarf in der Erziehungsberatung - AWO Seesen
Tabelle 2: Verteilung der 4 Ebenen bezogen auf Beratungs-/ Therapiebedarfe

Verteilung nach Anzahl der Bereiche, bei denen Beratungs-/ Therapiebedarf besteht

Eine weitere Auswertung, die in Tabelle 3 dargestellt ist, verdeutlicht, dass nur in einem einzigen Fall bei allen 4 Ebenen keine beratungsrelevante Belastung angegeben wurde. Bei über 50 % der Fälle sind 3 oder alle 4 Familienebenen belastet.

Erziehungsberatung Niedersachsen - Fragebogenerhebung: Anzahl der Bereiche mit Beratungs- bzw. Therapiebedarf - AWO Seesen
Tabelle 3: Verteilung nach Anzahl der Bereiche, bei denen Beratungs-/ Therapiebedarf besteht

Auswertung der Ergebnisse hinsichtlich der Fragestellungen

Sind die meisten Klient*innen richtig in der Erziehungsberatung oder brauchen sie andere, weitergehende oder keine Hilfe?

Die Befragung hat eindeutig ergeben, dass bis auf einen einzigen Fall mindestens in einem Themenbereich Beratungs- und Therapiebedarf bei den untersuchten Fällen besteht. Allerdings besteht nicht immer Beratungsbedarf im unmittelbaren Bereich der Beziehung Eltern-Kind, aber doch in den anderen drei familiären Bereichen, die mittelbar auch Kinder beeinflussen.

Bestehen bei den Klient*innen neben Erziehungsproblemen auch weitergehende Schwierigkeiten in den familiären Ebenen Persönliches Befinden, Partnerschaft und Sozialkontakte?

Bei den familiären Ebenen Partnerschaft (74%), Befinden (73%) und Sozialkontakte (61%) bestehen in erheblichem Ausmaß Schwierigkeiten, die eine Beratung oder Therapie notwendig machen.

Liegen Mehrfachbelastungen bei den Klient*innen vor?

In erheblich großem Umfang (über 50 %) bestehen in 3-4 Bereichen Probleme, so dass von Multiproblemfällen gesprochen werden kann.

Diskussion der Ergebnisse

Die Fragebogenerhebung konnte eindrücklich belegen, dass die untersuchten Eltern richtig in der Erziehungsberatung sind, entweder in der Richtung, dass sie eine Erziehungsberatung benötigen oder dass sie von der Beratungsstelle in weitergehende Hilfen vermittelt werden.

Auf Grund der erheblichen Belastungen der Familien in verschiedenen familiären Funktionsbereichen ergibt sich die folgende Grundsatzfrage:

Wie gehen Erziehungsberatungsstellen damit um, dass in den angefragten Fällen in großem Umfang weitergehende familiäre Themenbereiche (Partnerschaft, Befinden, Sozialkontakte) beeinträchtigt sind?

Die Familienpsychologie hat in umfangreichen Studien (Bodenmann 2016) nachgewiesen, dass die familiären Ebenen Beziehung Eltern-Kind, persönliche Belastung und Partnerschaft eng miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Persönliche Belastungen der Eltern können sowohl die Partnerschaft als auch die Beziehung zum Kind stark beeinflussen. Eine belastete Eltern-Kind-Beziehung kann sich sehr beeinträchtigend auf das persönliche Befinden und die Partnerschaft auswirken. Außerdem liegen auch klare Belege dafür vor, dass sich eine belastete Partnerschaft negativ auf die Eltern-Kind-Beziehung und das persönliche Befinden auswirken kann.
Die vorliegende Fragebogenuntersuchung bestätigt die Ergebnisse der Familienpsychologie. Weiterhin bezieht die vorliegende Erhebung die soziale Einbindung von Familien mit ein.

Eine angemessene Reaktion auf diese Befunde besteht darin, dass Erziehungsberatungen ganzheitlich alle familiären Funktionsbereiche einbeziehen müssen. Eine integrierte Familienberatung betrachtet nicht nur eindimensional die Ebene der Erziehungskompetenz, bzw. die Eltern-Kind-Beziehung, sondern bezieht immer auch die anderen Familienbereiche mit ein. Im AWO-Zentrum für Erziehungs- und Familienberatung werden nicht selten integrierte Paar- und Elternberatungen durchgeführt, die sowohl auf die Verbesserung der Erziehungsfähigkeit als auch auf die Verbesserung der Paarzufriedenheit abhebt (vgl. Bromann 2020).

Eine weitere wichtige Frage besteht darin, wie Mitarbeiter*innen der Erziehungsberatung erkennen können, ob neben den Erziehungsfragestellungen andere familiäre Bereiche beratungs- oder therapiebedürftig sind?

Eine standardisierte Fragebogenerhebung, wie z.B. die verwendete Checkliste „Ebenen familiärer Beziehungen“ stellt eine gute Möglichkeit der strukturierten komplexen Erfassung von familiären Problemen dar.
Eine weitere Möglichkeit des Erkennens von belasteten Familienbereichen besteht in der Anwendung von standardisierten Erstgesprächsleitfäden, die grundsätzlich neben den vorgestellten Anliegen der Eltern, alle Ebenen des Familienlebens abfragen.
In Fallbesprechungen im AWO-Zentrum für Erziehungs- und Familienberatung werden neben den Erziehungsfragestellungen auch immer die genannten weiteren Familienfunktions-bereiche mitreflektiert, so dass bei Bedarf eine umfassende Familienberatung stattfinden kann.

Wie können Mitarbeiter*innen in der Erziehungsberatung erkennen, dass andere oder weitergehende Hilfen notwendig sind?

Diese Frage ist ebenfalls eine wichtige Frage, die sich aus der Untersuchung ergibt.
Klare Kriterien und regelmäßige Reflexionen, ob Erziehungsberatung ausreicht oder andere Hilfen einbezogen werden müssen, ist eine gute Voraussetzung dafür, dass Multiproblemlagen nicht lange oder zu lange zu erfolglosen Erziehungsberatungsprozessen führen.
Beim Vorliegen einer besonderen Belastung von Familien in einem oder mehreren Bereichen sind andere oder weitergehende Hilfen, z.B. Einzelpsychotherapien, Kinderpsychotherapien oder psychiatrische Behandlungen notwendig.

Die vorliegende Fragebogenerhebung weist darauf hin, dass viele Familien in der Erziehungsberatung eine mangelnde soziale Einbindung erleben. Erziehungsberatung sollte sich damit fragen, in welcher Form sie soziale Kontakte von Kindern, Jugendlichen und Eltern stärken kann.

Im AWO-Zentrum für Erziehungs- und Familienberatung findet eine Stärkung der sozialen Einbindung u.a. durch Elternkurse statt, bei denen sich Eltern untereinander vernetzen können und oftmals über eine Gruppe hinaus Kontakte zu anderen Eltern behalten.
Durch die enge Kooperation mit der AWO-KISS aus Goslar können Eltern in Selbsthilfegruppen vermittelt werden, bzw. können auch im ZEF Selbsthilfegruppen initiiert werden, die die Räumlichkeiten nutzen können. Weiterhin findet durch Kinder- und Jugend-lichengruppenarbeit eine Stärkung der Sozialkontakte von Kindern und Jugendlichen statt.

Fazit

Die vorgestellte Fragebogenerhebung konnte bei geringem zeitlichen Aufwand für Klient*innen wichtige Erkenntnisse über das Ausmaß und die Besonderheiten der Belastung der Familien erbringen. Die Erkenntnisse konnten sofort in die Beratungsprozesse einfließen und haben nachhaltig zu veränderten Umgehensweisen in der Beratungsstelle mit den komplexen familiären Belastungen geführt.

Literatur

Bodenmann, G. (2016): Lehrbuch Klinische Paar- und Familienpsychologie. Göttingen. Hogrefe
Bromann, C. (2020): Eltern-Paare gut beraten. Weinheim. Beltz Juventa
Klemm, T. (2013): Ebenen familiärer Beziehungen. Leipzig. Leipziger Wissenschaftsverlag

Autoren

Cora Adameit und Carsten Bromann (Jahresbericht 2023)

bei der LAG Niedersachsen

bei der LAG Nieder-sachsen

Welche Vorteile eine Mitgliedschaft für Sie persönlich, aber auch für die Weiterentwicklung der Erziehungsberatung in Niedersachsen und Deutschland hat, zeigen wir Ihnen hier.

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